Interview
Wie ein Bremer Neurowissenschaftler nach "Schaltern" im Gehirn sucht
Andreas Kreiter forscht seit fast 25 Jahren zum menschlichen Hirn. Im Interview spricht er über dessen Komplexität und die umstrittenen Affenversuche an der Bremer Uni.
Herr Prof. Kreiter, Sie forschen mit Ihrem Team jetzt schon seit fast 25 Jahren, wie kommen Sie voran?
Ich bin eigentlich ganz zufrieden damit, wie wir hier vorankommen, wir haben uns ja zum Ziel gesetzt, sehr komplexe grundlagenwissenschaftliche Fragen zu bearbeiten und haben da in den letzten Jahren doch erhebliche Fortschritte im Verständnis ganz grundlegender Funktionen des Nervensystems gemacht.
Welche Forschungsfragen haben Sie und welche Antworten haben Sie bisher gefunden?
Die zentrale Frage der Neurowissenschaften ist, wie können Hunderte Milliarden Nervenzellen nur durch Austausch kleiner, kurzer, etwa eine Tausendstel Sekunde dauernde elektrische Signale all das erzeugen, was wir subjektiv als Wahrnehmung, als Aufmerksamkeit, als Gedächtnis erleben.
Und in diesem großen Feld ist eine ganz wichtige Frage die Frage nach den Schaltern. Jeder Informatiker weiß, dass ein informationsverarbeitendes System über Schalter verfügen muss. Computer sind voll von Schaltern. Im Gehirn sind aber bis jetzt keine Nervenzellen mit Strukturen beobachtet worden, die wie Schalter funktionieren. Und deshalb gilt die Frage, wie im Gehirn Schalter realisiert werden, als eine der zentralen neurowissenschaftlichen Fragen des 3. Jahrtausends.
Wir haben eine spezielle Hypothese untersucht, die sagt: Schalter im Sinne zellulärer Bauelemente gibt es tatsächlich nicht, sondern Schalten wird durch kleine Änderungen der präzisen zeitlichen Strukturen der Nervenzellenaktivitäten realisiert. Das hat man vor 20 Jahren noch mit sehr viel Argwohn betrachtet und für ein bisschen abwegig gehalten, inzwischen haben wir Schritt für Schritt zeigen können, dass das eine sehr interessante Hypothese ist und dass wichtige Vorhersagen, die diese Hypothese macht, tatsächlich zutreffen.
Aber es ist immer noch eine Hypothese?
Ich wäre generell im Bereich Informationsverarbeitung im zentralen Nervensystem noch sehr vorsichtig, irgendwo von gut etablierten Theorien zu sprechen. Aber ich denke, wir sind dabei, in diesem Feld die Grundlagen dafür zu legen, dass wir solche zentralen Theorien bekommen, die dann wirklich ein geschlossenes Verständnis der Hirnfunktionen ermöglichen werden.
Was fangen Sie denn an damit?
Wir verstehen dann das Gehirn ein gutes Stück besser und können dann von diesem Punkt aus weitergehende Fragen stellen, um eine Situation herzustellen, in dem es gelingt, das Gehirn in einer ähnlich guten Weise zu beschreiben wie wir das für andere Organe schon seit Jahren oder Jahrzehnten können.
Es geht um Funktionsbeschreibung?
Es geht um das Verstehen der Funktionsweise. Von der Niere zum Beispiel wissen wir seit Jahrzehnten sehr genau, wie sie funktioniert und deshalb konnte man dann auch ihre pathologischen Veränderungen, also Nierenerkrankungen, verstehen und in der Folge dann auch therapeutische Konzepte entwickeln. Dieses weitgehende Verständnis der Funktionsweise fehlt uns für das Gehirn.
Wir haben jede Menge Daten über das Gehirn, aber tatsächlich zu verstehen, wie aus dem Austausch kleiner elektrischer Signale zwischen hunderter Milliarden Nervenzellen so etwas wie Aufmerksamkeit oder Wahrnehmung wird, davon sind wir noch weit entfernt. Da ist noch eine große Strecke zu gehen, bis wir in eine Situation kommen, in der wir sagen können: Ok, auf Basis dieser Erkenntnisse der Funktionsweise können wir jetzt die Fehlfunktionen des Gehirns wirklich verstehen und systematisch therapeutische Konzepte entwickeln. Davon unbenommen werden schon jetzt auf der Basis der Erkenntnisse zur Bedeutung präziser zeitlicher Aktivitätsmuster neue Erklärungen für Hirnerkrankungen postuliert und bei Patienten tatsächlich Abweichungen an jenen zeitlichen Aktivitätsmustern beobachtet, deren Funktion wir erforschen.
Wagen Sie eine Prognose, wann wir über das Gehirn so viel wissen wie heute über die Niere?
Das Problem ist, dass das, was man über das Gehirn wird wissen müssen, um tatsächlich sagen zu können, jetzt haben wir das Gehirn so gut verstanden, extrem viel umfangreicher ist. In vielen Bereichen wird gerade erst deutlich, in welche Richtung gedacht werden muss und was die richtigen Fragen sind. Deswegen wäre ich da sehr vorsichtig, irgendeine Schätzung zu machen. Es ist sicher eine Frage von Jahrzehnten, bis man sagen kann, ja, wir haben jetzt so etwas wie eine zentrale Theorie der Funktionsweise des Gehirns, die die wesentlichen Phänomene tatsächlich beschreibt. Das Gehirn ist eben ein wahnsinnig komplexes System und erfüllt viele verschiedene Funktionen. Es erlaubt uns, Wahrnehmungen zu haben, Aufmerksamkeit auszurichten, Gedächtnis zu bilden, Entscheidungen zu treffen und komplexe Bewegungsabläufe durchzuführen. Das ist eine Vielfalt von Funktionen, die weit über das hinausgeht, was wir in Stoffwechselorganen haben.
Sie sagen, Sie haben sich auf die "Schalter" im Gehirn konzentriert in Ihrer Forschung, mit der Frage: Was lassen wir an uns heran, was blenden wir aus? Wo führen die Antworten hin?
Die Frage nach den Schaltern führt uns zu Grundprinzipien der Informationsverarbeitung im Gehirn. Uns stellt sich das Gehirn derzeit nicht als ein System dar, das eine hoch flexible Software ausführt, sondern eher wie eine Elektronikschaltung, die, je nachdem, wie sie welche Informationen verarbeiten soll, von Moment zu Moment umverdrahtet werden muss. Es wird immer deutlicher, dass ein zentrales Funktionsprinzip des Gehirns darin besteht, die effektive Stärke der Verbindungen zwischen Nervenzellen innerhalb von Bruchteilen von Sekunden zu verändern, so dass sich die informationsverarbeitende Funktion eines neuronalen Netzes grundlegend verändern kann. So könnten die neuronalen Netzwerke trotz ihrer anatomisch gegebenen und nicht rasch veränderbaren Verbindungen in einem Moment eine bestimmte Funktion lösen und im nächsten Moment, wenn eine andere Funktion erfüllt werden muss, funktionell buchstäblich umverdrahtet werden.
Sie experimentieren dafür mit Makaken, was in der Öffentlichkeit umstritten ist, auch nach mehr als 20 Jahren und etlichen Gerichtsurteilen, die ihre Forschungen letztlich legitimieren. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Frage, ob die Tierversuche unverzichtbar sind.
Definitiv ja. Schon das Tierschutzgesetz gibt ganz klar vor, dass nur dann Tierversuche gemacht werden dürfen, wenn die Erkenntnis auf keine andere Weise zu erreichen ist. Das wird bei jedem Versuchsantrag genau kontrolliert. Man kann bei unseren Fragestellungen aber auch relativ leicht klarmachen, dass es tatsächlich unverzichtbar ist, ein in Funktion befindliches Gehirn zu beobachten. Wir wissen eben nicht, wie die einzelnen Teile des Gehirns miteinander interagieren, um diese Funktionen zu erzeugen, und deswegen müssen wir das beobachten – in einem Gehirn, das genau definierte Informationsverarbeitungsleistungen wie die Ausrichtung von Aufmerksamkeit erbringt. Das kann ich nicht in einer Kulturschale machen, denn Zellkulturen richten keine Aufmerksamkeit auf irgendetwas aus, und sie haben auch keine Wahrnehmung. Und ich kann es natürlich auch nicht in einem Computer machen, denn um diese Prozesse simulieren zu können, müsste ich erst einmal wissen, wie sie funktionieren. Da ich gerade das noch nicht weiß, muss ich tatsächlich die Realität beobachten.
Die Realität ist aber auch: Am Ende des Experimentierens ist der Affe tot.
Das ist richtig, dass die Tiere ganz am Ende des Experiments eingeschläfert werden, um beispielsweise noch histologische Untersuchungen durchführen zu können. Jetzt muss man allerdings sagen, dass der Bedarf von Versuchstieren bei uns mit weit unter einem Tier pro Jahr und Projekt im Vergleich zu anderen Bereichen der biomedizinischen Forschung sehr klein ist - und vor allem im Vergleich zu anderen Bereichen, in denen unsere Gesellschaft für Zwecke, die ohne weiteres verzichtbar oder ersetzbar wären, extrem viel mehr Tiere einsetzt. Ich denke, das ethische Problem liegt hier ganz offensichtlich nicht auf der Seite der Wissenschaft.
Wie lange haben Sie mit den Affen gearbeitet, bevor Sie sie dann einschläfern und untersuchen?
Das sind in der Regel über zehn Jahre.
Sie bekommen Ihre Forschungsanträge immer auf Zeit genehmigt, und immer, wenn eine Verlängerung fällig ist, kommt Gegenwind für Sie, aus der Öffentlichkeit, aus der Politik.
Im Grunde genommen ist das ein tieftrauriger Vorgang, zu einer Zeit, in der andern Orts alle halbwegs fortschrittlichen Kräfte und viele junge Leute gerade erreichen, dass man sich auf wissenschaftlich fundierte Argumente konzentriert und der Wissenschaft zuhört. Stattdessen erleben wir blanken Populismus, bis hin zu Unterstellungen strafbarer Handlungen von politischer Seite. Derartige Diffamierungen treffen gerade auch eine ganze Reihe hochengagierter junger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und sind ein weiterer Tiefpunkt einer verantwortungslosen Kampagne.
Welche strafbaren Handlungen hat man Ihnen denn vorgeworfen?
Ein Tier zu quälen ist nach meinem Verständnis des Tierschutzgesetzes eine Straftat. Und dementsprechend verstehe ich den Vorwurf Tiere zu quälen.
Wie gehen Sie damit um?
Als Wissenschaftler haben Sie mit sachlichen Argumenten, objektiver Information und einer Vielzahl von Laborführungen für Journalistinnen und Journalisten sowie Gruppen von Bürgerinnen und Bürgern keine Chance gegen die geballte Macht eines politischen Apparates, der anscheinend jedes Gespür für die Bedeutung von Grundrechten und Rechtsstaatlichkeit verloren hat. Das heißt, Sie müssen sich nötigenfalls auch mit juristischen Mitteln gegen politisch motivierte Rechtsbrüche und Grundrechtsverletzungen wehren. Gegen Verleumdungskampagnen, Hetze und Hasstiraden, die inzwischen wieder vermehrt in Netz und Medien zu beobachten sind, können Sie aber letztlich kaum etwas machen.
Bereiten Sie sich auf eine neue juristische Auseinandersetzung vor?
Im Moment warten wir darauf, dass wir die Verlängerungsgenehmigung bekommen. Das kann nach Recht und Gesetz wirklich kein Problem sein, weil alle relevanten Fragen sehr detailliert und bis in die höchste Instanz geklärt sind. Insofern gehe ich nicht davon aus, dass wir wieder eine Prozesskette wie in den Jahren 2008 bis 2013 führen müssen, die den Eindruck erweckte, man versuche durch Zermürbung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern Forschung kaputt zu machen, deren Genehmigung man rechts- und verfassungskonform nicht hätte verweigern können.
Die Gegner Ihrer Forschung berufen sich auf neues europäisches Tierschutzrecht. Danach könnten die Karten neu gemischt werden?
Das ist eines dieser manipulativen fake-news-Argumente. Das "neue" europäische Tierschutzrecht ist die EU-Richtlinie 2010/63, bereits elf Jahre alt. Sie wurde 2013 in deutsches Recht umgesetzt. Seitdem gibt es zwischen der EU und dem Bund Diskussionen um Details, die unseren Antrag aber nicht betreffen. Schon zum Zeitpunkt des rechtmäßig genehmigten Hauptantrags war das angeblich neue EU-Recht bereits fünf Jahre in Deutschland in Kraft und seit 2010 hat es keinerlei neues EU-Recht gegeben. Die wahrheitswidrige Behauptung wird dennoch durch populistische Kreise weiterverbreitet. Leider können die sich darauf verlassen, dass Hörerinnen und Hörer oder Leserinnen und Leser natürlich keine EU-Rechtsexperten sind und deshalb haarsträubende Falschbehauptungen gar nicht erkennen können, sondern in der Regel einfach glauben.
Einen neuen juristischen Hebel zur Bewertung Ihrer Experimente sehen Sie da nicht?
Nein, vor allem sehen das auch die Juristinnen und Juristen nicht, mit denen ich gesprochen habe. Hier wird mangels echter Argumente den Bürgerinnen und Bürgern ganz offenbar ein X für ein U vorgemacht.
Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 5. November 2021, 19:30 Uhr