Interview

Kohle oder Atomkraft? Bremer Forscher spricht von "Pest und Cholera"

Das Kohlekraftwerk in Bremen-Farge.
Das Kohlekraftwerk in Bremen-Farge wird wegen der Gaskrise länger in Betrieb bleiben als ursprünglich geplant. Bild: dpa | G. Franz

Um notfalls Gas zu sparen, hält der Bund an Kohlekraft fest. Dabei ginge es auch mit Kernenergie, sagt CSU-Chef Söder. Jein, sagt ein Bremer Forscher und erklärt Unterschiede.

Die Entscheidung durch den Bundesrat ist gefallen: "Wenn Gas knapp wird, kann Strom kurzfristig auch wieder vermehrt aus Kohle und Öl erzeugt werden", heißt es in einer Presseerklärung der Bundesregierung. Vor dem Hintergrund des Kriegs sei es kurzfristig wichtig, "die Energieabhängigkeit von Russland zu verringern und die Energieversorgung auf eine breitere Basis zu stellen".

Daher sollen im Notfall Öl- und Kohlekraftwerke Strom produzieren, sofern das Gas knapp wird. Auch das Kohlekraftwerk in Bremen-Farge, das ursprünglich im Oktober hätte stillgelegt werden sollen, wird nun vorerst in Betrieb bleiben.

In der Politik ist unterdessen eine neue Debatte um Atomenergie entbrannt. "Es gibt keine Argumente außer rein ideologischen Basta-Argumenten, die Kernkraft nicht zu verlängern", hat etwa CSU-Chef Markus Söder im ARD-Sommerinterview gesagt. Zum Hintergrund: Nach jetzigem Stand sollen die drei letzten deutschen Atomkraftwerke im Dezember abgeschaltet werden. Der Bremer Nachhaltigkeitsforscher Arnim von Gleich, der sich auch auf resiliente Energiesysteme spezialisiert hat, wägt das Für und Wider von Kernenergie und Kohleenergie ab.

Herr von Gleich, welche Vorteile hätte es, Atomkraftwerke weiter laufen zu lassen?

Es hätte den Vorteil einer in der Grundlast sicheren Stromversorgung.

Welche Rolle spielt Atomkraft beim Heizen, welche könnte sie spielen?

Strom kann in mehrerer Hinsicht eine Rolle beim Heizen spielen. Die Baumärkte verkaufen gerade ganz viele Radiatoren, also klassische, mit Öl gefüllte Heizkörper, die man mit Strom betreibt. Das ist natürlich nicht das Effizienteste, wenn auch effizienter als Heizlüfter. Aber: Beides sind zumindest mögliche Notlösungen. Um effizient mit Strom zu heizen, bräuchte man eine Wärmepumpe.

Älterer Herr mit blauem Pulli und Brille blickt vor Holzscheiteln im Hintergrund in die Kamera
Weder ein Freund von Atom-, noch von Kohleenergie: Arnim von Gleich. Bild: Radio Bremen | Alexander Schnackenburg

Klingt, als könnten wir notfalls ganz auf Gas verzichten, um Wärme zu erzeugen…

Es geht nicht nur um Wärme für Gebäude. Wir brauchen Gas noch mehr für Hochtemperatur-Prozesse, gerade in der Industrie. Dafür wäre Strom keine Lösung, zumindest eine sehr ineffiziente. Und daher wären hierfür auch Atomkraftwerke keine Hilfe.

Der Bund hat sich dagegen entschieden, die drei verbliebenen Atomkraftwerke – Emsland, Neckarswestheim, Isar 2 – länger als bis Ende 2022 laufen zu lassen. Aber der Bund hat beschlossen, Kohlekraftwerke für die Stromerzeugung wieder aus der Reserve zu nehmen. Was können Kohlekraftwerke, was Atomkraftwerke nicht könnten?

Als wir den Kohle-Ausstieg beschlossen hatten, sollten zunächst für eine Übergangszeit Gaskraftwerke die Funktion der Kohlekraftwerke übernehmen und Strom erzeugen. Denn Gaskraftwerke können wie Kohlekraftwerke flexibel gefahren werden und so bedarfsweise die Lücken ausfüllen, die entstehen, wenn die regenerative Energie aus den Windkraftanlagen ausbleibt. 

Da jetzt aber das Gas knapp zu werden droht und wir es anderweitig als zur Stromerzeugung brauchen, denkt man nun aus der Not heraus gewissermaßen umgekehrt: Kohlekraftwerke sollen übergangsweise an die Stelle der Gaskraftwerke treten und die Lücken aus der regenerativen Energie ausfüllen, denn auch sie können gedrosselt und wieder hochgefahren werden. Genau das kann ein Kernkraftwerk nicht. Wenn ein Kernkraftwerk erst hochgefahren ist, dann muss es strikt durchlaufen. Daher wurden Kernkraftwerke auch immer für die Grundlast eingesetzt. 

Aber Kohlekraftwerke erzeugen viel Kohlendioxid. Trotzdem hält Habeck die Kohlekraftwerke für das geringere Übel als Atomkraft. Warum?

Das ist tatsächlich eine bittere Entscheidung. Der Schaden, den Kohlekraftwerke dem Klima zufügen, kann irreversibel sein. Aber der Schaden, den der Atommüll, den wir gar nicht richtig entsorgen können, anrichtet, ist wohl genauso irreversibel. So gesehen ist es eine Entscheidung zwischen Pest und Cholera. 

Allerdings spricht noch ein weiteres, schwerwiegendes Argument gegen die Atomenergie: Neben dem Entsorgungsrisiko besteht die Gefahr eines Gaus! Dieses Risiko ist überhaupt der Hauptgrund dafür, dass man den Atomausstieg beschlossen hat, auch vor dem Hintergrund der Katastrophe von Fukushima.

Was bei Habecks Entscheidung pro Kohlekraftwerke und gegen Atomkraftwerke auch eine Rolle gespielt haben könnte, ist, dass man in die Atomkraftwerke wahrscheinlich neue Brennelemente einsetzen müsste. Und natürlich besteht die Sorge: Wenn die Atomkraftwerke erst einmal wieder mit neuen Brennelementen laufen, dann könnten sie auch dauerhaft wieder laufen. Allerdings haben ja sogar die Atomkraftwerk-Betreiber dagegen Bedenken angemeldet, auch wegen offener Wartungs- und Sicherheitsfragen.

Markus Söder behauptet, dass man die Atomkraftwerke auch mit den alten Brennelementen weiterlaufen lassen könnte…

Wenn das so wäre, dann wäre die Entscheidung für die Kohlekraftwerke und gegen die Atomkraftwerke tatsächlich noch ein bisschen schwerer. Allerdings habe ich anderes gelesen. Meines Wissens müssten die Brennelemente erneuert werden. Und, wie gesagt: Die Gefahr eines Gaus bestünde auch mit neuen Brennelementen.

Sie sind unter anderem auch Politikwissenschaftler. Was, glauben Sie, bezweckt Markus Söder mit seinen Reden pro Atomenergie in der jetzigen Situation?

Wenn ich in der Opposition säße, dann würde ich wahrscheinlich auch versuchen, ein bisschen Zwietracht in der Koalition zu säen, vielleicht sogar die Regierung vorzuführen. Das finde ich auch legitim. Es gehört zum politischen Tagesgeschäft dazu.

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Bild: Radio Bremen

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Dieses Thema im Programm: Bremen Zwei, Nachrichten, 13. Juli 2022, 7 Uhr