Interview

Bremer Ukraine-Expertin: "Der Krieg hat das Volk geeint"

Lange war das ukrainische Volk gespalten: Soll man zur EU oder zu Russland halten? Seit Krieg im Land herrscht, ist das Land geeinter denn je, sagt eine Bremer Expertin.

Vor genau 31 Jahren hat sich die Ukraine von der Sowjetunion gelöst – die Ukraine feiert ihre Unabhängigkeit seither mit einem Nationalfeiertag. Susanne Schattenberg, Direktorin der Forschungsstelle Osteuropa und Professorin für Zeitgeschichte und Kultur Osteuropas an der Universität Bremen, erklärt im Interview, wie wichtig der Tag mitten im Krieg für die Ukraine ist.

Was bedeutet den Ukrainerinnen und Ukrainern der Unabhängigkeitstag?

Sehr viel. Das sollte man nicht unterschätzen. Natürlich gab es anfangs die Hoffnung, dass man sich unabhängig von Moskau entwickeln könne und nicht mehr am Gängelband des großen Bruders ist. Das gilt politisch und kulturell, aber auch wirtschaftlich: Dass man nicht mehr gesagt bekommt, was man produzieren soll und an wen man es zu liefern hat.

Auch gab es sicherlich die Hoffnung, dass man mit den anderen Republiken, die aus der Sowjetunion hervorgingen, in einem losen Staatenverband kooperativ zusammenarbeiten kann – ohne, dass es darin wieder einen Machtfaktor wie Russland gibt. Im besten Fall hätte man eine östliche EU entwickelt, die genauso politisch und wirtschaftlich erfolgreich hätte sein können.

Porträt von Susanne Schattenberg
Professorin Susanne Schattenberg von der Universität Bremen (Archiv) Bild: Universität Bremen | Harald Rehling

Wie faktisch unabhängig war die Ukraine in den vergangenen 30 Jahren?

Die politische Unabhängigkeit war gegeben. Die Sowjetunion ist Ende 1991 tatsächlich zerfallen, es gab dann die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), aus der die Ukraine zwar erst 2014 ausgetreten ist, die GUS hatte aber wenig Bedeutung.

Und die Ukraine hat sich dann mit allen Mühen und Anfangsproblemen, der der Aufbau eines Staates mit sich bringt, als unabhängig erwiesen. Die wirtschaftlichen Strukturen waren zwar noch stark verflochten und die Gesellschaft war stark am hin und her schwanken, ob man sich eher an Russland oder der EU orientieren soll. Lange Zeit – auch bis vor dem Krieg – hatten 76 Prozent der Bevölkerung gesagt, Russland sei der wichtigste Nachbar. Am besten wäre es natürlich gewesen, man hätte beides haben können, eine Balance halten können und sich weder für den einen noch den anderen entscheiden müssen. Oft wurde die Ukraine auch als "Brücke" oder "Tor nach Europa" bezeichnet.

Trotz allem hat Russland die Ukraine angegriffen. Was löst der Krieg bei den Menschen aus – beflügelt er den Wunsch nach echter Unabhängigkeit?

Ja, und es ist natürlich irritierend, dass erst der Krieg die ukrainische Identität so richtig stärkt, dass sich die Menschen erst bei dieser Frage auf Leben und Tod ganz klar für eine westliche Ukraine entscheiden und es sich eine viel stärkere Ukraine herausgebildet hat als es vorher der Fall war. Deshalb sagen einige Ukrainer jetzt auch: Wenn Putin nicht so ein Kriegsverbrecher wäre, müsse man ihn dafür auszeichnen, wie sehr er das ukrainische Volk geeint hat.

Auszeit vom Krieg: Ukrainische Soldaten auf Familienurlaub in Bremen

Bild: Radio Bremen

Dieses Thema im Programm: Bremen Zwei, Der Morgen, 24. August 2022, 7:10 Uhr