Kommentar

Bei der Song-Auswahl für den ESC gab es einen gravierenden Denkfehler

Malik Harris steht vor einer Bildschirm, auf dem das ESC-Logo zu sehen ist.
Malik Harris konnte das Publikum beim ESC nicht überzeugen. Für Bremen-Eins-Moderator Jens-Uwe Krause ist klar, woran es lag. Bild: dpa | Jens Büttner

Malik Harris landete für Deutschland beim ESC auf dem letzten Platz. Sein Song war zwar "radiotauglich", aber eben nicht mutig, meint Bremen-Eins-Moderator Jens-Uwe Krause.

Das Wichtigste vorweg: Nein, das schlechte Abschneiden beim ESC hat nichts damit zu tun, dass wir Deutschen international so unbeliebt sind. Ginge es danach, wären die Brexit-Briten in diesem Jahr garantiert nicht auf einem hervorragenden Platz 2 gelandet. Es ist ohnehin schwer vorstellbar, dass ein guter Song und eine gute Performance unisono abgestraft werden, weil das Herkunftsland gerade unbeliebt ist. So tickt der ESC-Fan nicht. Und waren wir 2018 etwa so viel beliebter? Damals erreichte Michael Schulte für Deutschland immerhin Platz 4.

Der Grund für das schlechte Abschneiden hat mit der Art und Weise zu tun, wie der deutsche Beitrag im Vorfeld ermittelt wird. Gerade in diesem Jahr kam es zu einem gravierenden Denkfehler: Der Song, so hieß es, müsse "radiotauglich" sein. Ein Song also, der sich in die Playlists der sogenannten Pop-Wellen der ARD unauffällig einfügt. Er sollte spielbar sein. Bei Bremen Vier ebenso, wie bei Bayern 3 oder MDR Jump. Gefällig. Möglichst nicht allzu sehr stören. Und um Himmels Willen kein Aus- oder Umschaltfaktor sein. Niemand sollte Malik Harris mit "Rockstars" in seinem Radio hören, irritiert sein und wegschalten.

Ich will nicht alles verteufeln: Der Gedanke, einen Song zu finden, der aufgrund seiner Mainstream-Kompatibilität oft im Radio läuft und dadurch womöglich bei uns schon vor dem eigentlichen ESC zum Hit wird, hat einen entscheidenden Vorteil: Viele Menschen in Deutschland kennen den Song und interessieren sich dadurch etwas mehr für sein Abschneiden beim ESC. Sprich: Die Einschaltquote am ESC-Abend wächst. Und das sollte jedem klar sein: Am Ende ist der ESC eine Fernsehshow. Es geht, wie beim Fernsehen üblich, vorrangig um Einschaltquoten. Und je populärer der eigene Beitrag ist, desto mehr Zuschauer schalten ein. 2010 waren es aufgrund des kollektiven Lena-Hypes knapp 15 Millionen Zuschauer. Am vergangenen Sonnabend waren es 7 Millionen.

2010 hat Lena dann sogar gewonnen. Warum?

Ganz einfach: Weil Lena eine Ausnahmeerscheinung war. Auffällig. Durchaus auch polarisierend. Unangepasst. Charmant. Sie war eine durch und durch interessante Erscheinung. Man konnte sich ihr nicht entziehen. "Die Menschen werden Dich lieben!" rief Westernhagen ihr bereits nach der ersten Begegnung zu.

Darum sollte es also gehen: Wir müssen Künstler und Künstlerinnen finden, die uns in ihren Bann ziehen. Wir müssen Songs finden, die auffallen, die das gewisse Etwas haben. Nichts ist für den ESC tödlicher als Unauffälligkeit. Nichts ist beim ESC vernichtender, als das Prädikat "nett". Wir brauchen Magie statt Mainstream. Der ESC ist ein vom Mainstream abgekoppeltes Event. Man könnte es mit Modenschauen vergleichen. Auf internationalen Modenschauen werden auch viele Klamotten gezeigt, die vorrangig auffallen sollen, die aber im Alltag niemals getragen werden. Das sollen sie auch nicht. Sie sollen gesprächswertig sein. Aufmerksamkeit erzeugen. Kunst muss nicht alltagstauglich sein.

 Um es auf den Punkt zu bringen: Der deutsche Vorentscheid sollte für 2023 mutiger sein. Er sollte dem Publikum viele Songs unterschiedlichster Genres anbieten. Abwegiges. Irritierendes. Überraschendes. Auch Songs, die im Radio angeblich unspielbar sind (was sie, im Falle eines ESC-Sieges dann plötzlich eh nicht mehr sind). Statt sechs austauschbare Songs zur Abstimmung anzubieten, lieber 15 Songs, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Ob wir dann gewinnen? Vermutlich nicht. Aber es könnte uns den letzten Platz ersparen. Denn Mut und Originalität werden beim ESC fast immer belohnt.

 

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Bild: EBU Foto: Fabio Fistarol

Autor

  • Jens-Uwe Krause
    Jens-Uwe Krause Moderator

Dieses Thema im Programm: Bremen Vier, Nachrichten, 15. Mai 2022, 8 Uhr