27 Jahre Behindertenparlament in Bremen: "Wir sind nicht inklusiv"

Bild: dpa | Uwe Anspach

So viele Jahre beraten Menschen darüber, wie Teilhabe gleichberechtigt und das Leben barrierfrei werden kann. Die Pandemie hat deutlich gemacht: Es wird nicht inklusiv gedacht.

Arne Frankenstein ist der Behindertenbeauftragte des Landes Bremen. Er setzt sich für das Thema Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung ein. Inklusiv sei unsere Gesellschaft noch nicht, sagt er im Gespräch mit buten un binnen.

Unter dem Titel "Selbstbestimmung und Teilhabe – Jetzt erst recht!" diskutieren Menschen mit Behinderung heute in der Bürgerschaft. Wie sieht Teilhabe und Selbstbestimmung denn aus und wo muss unsere Gesellschaft noch wachsen?

Es geht um gleichwertige Lebensbedingungen für Menschen mit und ohne Behinderung. Und das bedeutet zunächst einmal, dass wir das in allen gesellschaftlichen Bereichen mitdenken müssen. Das heißt Teilhabe und Selbstbestimmung zielen darauf ab, dass jeder Mensch unabhängig von der Art und Schwere der Behinderung, im Stadtgebiet gleichwertig leben kann. Da ist natürlich in den vergangenen Jahren auch schon einiges erreicht worden, aber da ist noch sehr viel Luft nach oben.

Welche Themen sind über die Jahre denn akuter geworden?

Ein Thema, was auch besonderer Beachtung bedarf, ist die Frage der gesundheitlichen Versorgung behinderter Menschen. Vor dem Hintergrund, dass wir dort rechtliche Ansprüche, haben auch die Versorgung von Menschen mit Behinderung in barrierefreien Arztpraxen insbesondere sicherzustellen. Es braucht dort auch konkrete Anreize für Ärzte, ihre Praxis auch barrierefrei weiterzuentwickeln. Gerade in Zeiten, wo es auch darum geht Fachkräfte in Bremen anzuwerben und Ärzte nach Bremen zu bekommen. Darüber hinaus haben wir in der Pandemie gesehen, dass die Versorgung in den Quartieren eine besondere Bedeutung hat, wenn Krankenhaus-Systeme überlastet sind.

Sie sind seit zwei Jahren im Amt. Was war das wichtigste Anliegen, dass Sie bisher umsetzen konnten?

Die vergangenen zwei Jahre waren geprägt von der Bewältigung der Corona-Pandemie. In dieser Zeit war es erforderlich darauf zu achten, dass die Möglichkeiten behinderter Menschen nicht über das Maß hinaus eingeschränkt wird. Bei allem Bemühen um eine gute Lösung muss man erst mal festhalten, dass die bestehenden Benachteiligungen sich eher verfestigt haben.

In welchen Bereichen?

Wissenschaftliche Auswertungen zeigen, dass das Benachteiligungsrisiko dort besonders hoch war, wo Menschen mit Behinderung in besonderen Wohnformen leben oder spezielle Arbeitsangeboten in Anspruch nehmen. Aus meiner Sicht müssen wir daraus den Schluss ziehen, dass wir weitere Anstrengungen unternehmen müssen, um Inklusion und Teilhabe zu verbessern. Aktuell wird gerade der Landesaktionsplan zur Umsetzung der Behindertenrechtskonvention in Bremen fortgeschrieben. Der muss auch ein klares Zeichen setzen, dass Bremen seine Rolle als Land, das Inklusion groß schreibt, auch in krisenhaften Zeiten weiter ausfülle

Welche Missstände legen Krisen wie die Pandemie für Menschen mit Behinderung noch offen?

Wir haben im vergangenen Herbst mit Menschen mit ganz unterschiedlichen Beeinträchtigungen über ihre Erfahrungen mit der Pandemie gesprochen. Da waren die Rückmeldungen sehr eindeutig. Man hat gesehen, dass die Pandemie ein ganz wesentlicher Einschnitt war, was die individuelle Persönlichkeitsentfaltung und Teilhabe angeht. Ich habe da einen jungen Mann aus der Werkstatt vor Augen, der gesagt hat, es sei unerträglich, er möchte, dass es wieder so ist wie vorher. Das ist ja auch nachvollziehbar. Für die Gesamtbevölkerung war dann aber Beschäftigung in den Unternehmen unter Wahrung von 3G und Maske relativ schnell wieder möglich, gerade mit zunehmender Impfung. Dort war es einfach nicht so.

Wo sehen Sie Nachholbedarf?

Alle Analysen zeigen, dass wir bei allen Errungenschaften, die in den letzten Jahrzehnten gemacht wurden, mit Blick auf die Teilhabe behinderter Menschen immer noch am Anfang stehen. Es geht da um nicht viel weniger als für alle Menschen, unabhängig von ihrer individuellen Behinderung, die gleichen Lebenschancen zu erreichen. Die Erkenntnis, dass es dabei um fundamentale Menschenrechte geht hat erst die EU-Behindertenrechtskonvention im Jahr 2009 so richtig verbindlich festgeschrieben. Man muss einfach wissen, dass Deutschland eine Tradition hat von Fürsorge gegenüber Menschen mit Behinderung. So steht die eigene Persönlichkeitsentwicklung von Menschen mit Behinderungen nicht immer im Zentrum. Das gilt es nach und nach zu entwickeln, bis hin zur Selbstbestimmung. Das ist ein Daueraufgabe. Die aktuellen Krisen dürfen nicht dazu führen, dass wir bei diesem Prozess langsamer werden.

Eine Kritik hört man immer wieder: Menschen mit Behinderung, die in Werkstätten arbeiten, bekommen keinen Mindestlohn. Ist das mit dem Anspruch eine inklusive Gesellschaft sein zu wollen, vertretbar?

Die Zukunft der Werkstätten für behinderte Menschen zu entwickeln ist eine wichtige Aufgabe. Vor dem Hintergrund muss man wissen, dass dieses gesamte Werkstattsystem relativ viele unterschiedlich komplexe soziale Leistungsansprüche enthält und dass ein Teil davon der Werkstattlohn ist. Ich teile die Auffassung, dass die Lohngerechtigkeit dort in Zweifel gezogen wird. Es gibt, das ist ja auch schon eine sehr lange Debatte, jetzt auch eine Kommission auf Bundesebene. Die setzt sich wissenschaftlich mit einer neuen Organisation des Entgeltsystems in Werkstätten auseinander und soll dazu auch konkrete Vorschläge machen.

Wie kann die neue Organisation den aussehen?

Für mich ist ganz grundsätzlich wichtig, dass man ein gerechtes Entgeltsystem entwickelt, das auch in den Blick nimmt, dass dort teilweise sehr hochwertige Arbeiten erledigt werden. Die würden auch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt anders vergütet werden. Es geht auch um die Frage, inwieweit es über die Kooperationsvereinbarung von Unternehmen und Werkstätten höhere Löhne gezahlt werden können, für Menschen mit Behinderung.

Es gibt mittlerweile auch sehr viele und auch sehr gute finanzielle Fördermöglichkeiten. Die ermöglichen dem Arbeitgeber bis zu 75 Prozent Lohnkostenzuschuss, wenn er einem Werkstattbeschäftigten einen Job auf dem ersten Arbeitsmarkt anbietet. Mein Appell auch an die an die Unternehmer im Land wäre zu sagen: Probieren Sie das doch in Zeiten von Fachkräftemangel einfach einmal aus Menschen mit Behinderung zu beschäftigen.

Ein Antrag für das Behindertenparlament behandelt die Barrierefreiheit der Innenstädte. Wie barrierefrei ist Bremen?

Die Bremer Innenstadt ist mit dem ÖPNV ganz gut barrierefrei zu erreichen. In der öffentlichen Debatte ist viel die Rede von der Steigerung der Attraktivität der Innenstadt. Bei der Frage der Steigerung der Attraktivität stehen nach meinem Eindruck in der öffentlichen Debatte aktuell die Belange behinderter Menschen noch nicht im Zentrum. Meine Erfahrung als Landesbeauftragter ist, dass Barriererfreiheit immer dann gut funktioniert, wenn man sie von Anfang an mit berücksichtigt. Sie wird immer dann zum Problem, wenn man hinterher merkt, dass dadurch eine tolle Gestaltungsidee torpediert wird. Deshalb werden das "Forum barrierefreies Bremen" und ich gemeinsam mit der Stadtentwicklungssenatorin im Juli eine Veranstaltung durchführen, die die Anforderungen behinderter Menschen an die Entwicklung der Innenstädte noch mal konkretisieren soll.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

Also ich wünsche mir, dass wir anerkennen, dass Krisenbewältigung immer auch inklusiv erfolgen muss. Das bedeutet wir müssen schauen, dass die Bewältigung der Corona-Folgen und der Umbau der Gesellschaft hin zum Klimaschutz auch Barrieren abbaut und Teilhabe stärkt. Das ist aus meiner Sicht nicht nur ein Gebot von Wirtschaftlichkeit, sondern es geht auch darum, das Geld nur einmal auszugeben.

Autorin

  • Marie Roters
    Marie Roters Autorin

Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 5. Mai 2022, 19:30 Uhr