Bremerin verliert Bein bei einem Rettungsversuch – und erhält Orden

Bremerin zeigt Zivilcourage, verliert Bein und gibt trotzdem nicht auf

Bild: Radio Bremen

Seit dem 3. September ist alles anders für Ayleen Holz. Am Bahnhof Verden liegt ein Mann im Gleisbett. Sie versucht ihn zu retten. Er stirbt, sie wird schwer verletzt.

Für ihren Impuls sofort helfen zu wollen, wurde die 25-jährige Bremerin heute von Innensenator Ulrich Mäurer (SPD) belobigt. In der Vergangenheit, sagt Mäurer, habe er schon oft Menschen für ihre Zivilcourage geehrt. Normalerweise ein freudiger Anlass. Heute sei das aber schwierig, denn ein Happy End gibt es bei dieser Geschichte nicht.

Ayleen Holz beweist Zivilcourage am 3. September – und bezahlt dafür mit schweren Verletzungen. Ein Bein wurde ihr am Oberschenkel amputiert. Heute erzählt sie dem Innensenator und der geladenen Presse ihre bewegende Geschichte. Mehrfach muss sie unterbrechen, weil ihr die Tränen kommen. Ayleen Holz hat eine schwierige Zeit hinter sich.

Plötzlich liegt ein Mann im Gleisbett

Die 25-Jährige ist medizinische Fachangestellte an einer Bremer Klinik und am 3. September auf dem Weg in den Urlaub zum Flughafen Hannover. Weil Züge ausfallen, muss sie in Verden umsteigen, überbrückt die Wartezeit am Bahnhof mit einem Telefonat mit ihrer Schwester, läuft den Bahnsteig auf und ab. Da sieht sie plötzlich einen Mann im Gleisbett liegen. Dann handelt sie ohne groß nachzudenken. Sagt ihrer Schwester, sie solle dran bleiben, da liege ein Mann auf den Gleisen – und springt selbst auf die Schienen. Der Mann ist nicht ansprechbar.

Ich war nicht stark genug, ihn wegzuziehen.

Ayleen Holz

Dann sieht sie einen Güterzug kommen. Sie versucht noch, sich selbst an der Seite hochzuziehen, doch es reicht nicht mehr. "Alles ging so schnell. Ich bin durch die Luft geflogen, habe vor Schmerzen geschrien. Dann waren viele Leute da. Ich habe nach dem Handy gefragt", erzählt Ayleen Holz. Ihre Schwester ist noch dran. Ayleen Holz entschuldigt sich.

Erdrückende Schuldgefühle

Die Frage der Schuld beschäftigt die 25-Jährige auch in den Wochen nach dem Unfall. Sie hat Schuldgefühle ihrer Familie und ihren Freunden gegenüber, dass sie sich in Gefahr gebracht hat, dass ihr Einsatz "nichts genützt" habe. Denn der Mann wurde vom Zug erfasst und tödlich verletzt. "Aber", erzählt die Bremerin, "eine Freundin hat gesagt: 'Hättest du nicht geholfen, hättest du dir auch Vorwürfe gemacht.' So bin ich einfach: Ich helfe", sagt sie. Eine Frage aber bleibt offen: Warum der 33-jährige Mann auf die Gleise gesprungen war und dort regungslos lag. Darauf hat die Polizei auch heute keine Antwort.

Ihren Hilfseinsatz bezahlt sie mit schweren Verletzungen. Die Ärzte versuchen ihren Unterschenkel zu retten, vergeblich. Mehrere Operationen in zwei Kliniken, am Ende wird ihr das Bein über dem Knie am Oberschenkel entfernt. Dazu hat sie eine Lungenembolie und ein zertrümmertes Becken, kämpft mit Wundheilungsstörungen. Insgesamt bleibt Ayleen Holz sieben Monate in der Klinik, der Heilungsverlauf ist schwierig. Eigentlich sollte sie schon Ende Dezember entlassen werden, hatte auf Weihnachten zu Hause gehofft. Doch dann muss sie auf die Intensivstation. Eine Woche. Nieren-Becken-Entzündung, Lungenentzündung. Es steht schlecht um sie, doch sie schafft es. Silvester ist sie zurück auf der Normalstation.

Wo sind die Grenzen der Zivilcourage?

Trotz der schwierigen Zeit, trotz der Schmerzen: Ayleen Holz will ihr Schicksal annehmen. Nach der Amputation, sagte sie, habe sie den Stumpf nicht ansehen können, nicht akzeptieren wollen, dass ein Teil ihres Körpers nicht mehr da sei. Heute sei das anders. Sie habe sich sogar Videos der Amputation angesehen, schon aus beruflichem Interesse. Seit Januar mache sie Reha, seit Ende März ist sie wieder zu Hause in ihrer Bremer Wohnung. Reha auch jetzt, jeden Tag, Montag bis Freitag. Sie teste gerade unterschiedliche Prothesen. "Ich bin positiv, dass es endlich bergauf geht. Bald ist wieder alles möglich", sagt sie.

Dass sie für ihren Einsatz nun öffentlich belobigt wird, freut sie sehr.

Ich kann es immer noch nicht wirklich glauben, bin nervös und aufgeregt und werde es erst realisieren, wenn ich zu Hause bin und der Tag abklingt. Der Preis bedeutet mir sehr viel. Dass es gesehen wurde, dass die Menschen Interesse gezeigt haben.

Ayleen Holz

Für Innensenator Mäurer ist die Belobigung keine einfache Sache, das wird klar. Wo sind die Grenzen der Zivilcourage? War es richtig von Ayleen Holz, einfach ins Gleisbett zu springen und so auch ihr Leben zu gefährden? Eine Frage, auf die es keine klare Antwort gibt.

"Sie hat gehandelt. Das ist nicht hoch genug einzuschätzen."

Lüder Rippe ist Inspektionsleiter der Bundespolizei Bremen, die auch für die Sicherheit an Bahnhöfen zuständig ist.

Ayleen Holz bei der Belobigung durch Innensenator Ulrich Mäurer (SPD)
Ayleen Holz mit Innensenator Ulrich Mäurer (SPD) bei der Belobigung. Bild: Radio Bremen | Maike Albrecht

Er sagt, oft genug schauen Menschen weg, handeln nicht, obwohl sie helfen könnten, warten lieber auf die Einsatzkräfte. "Frau Holz hat nicht weggeschaut, sie hat gehandelt. Das ist nicht hoch genug einzuschätzen", sagt Rippe. Auch wenn eben nicht jede Situation gut ausgehe.

Laien unterschätzen häufig Gefahren des Bahnverkehrs

Das Problem: Gerade im Bahnverkehr könnten Laien die Gefahren sehr schlecht realistisch einschätzen. Am Bahnhof Verden führen Züge teils mit 160 km/h durch den Bahnhof, so Rippe. Das heißt: Ist der Zug noch 120 Meter weg, sei er kaum zu sehen, aber schon in drei Sekunden da. Sind Menschen im Gleisbett, sei es gut, die 110 zu wählen. "Damit lässt sich der Zugverkehr schnell stoppen." Will man selbst helfen, solle man am besten andere Menschen in die Rettungsaktion involvieren, die zum Beispiel den Zugverkehr im Auge behalten.

Ayleen Holz, das wird klar, hadert nicht mehr mit ihrem Schicksal. Sie möchte jetzt auch Vorbild sein, anderen Amputierten zur Seite stehen. "Ich kann mir gut vorstellen, andere zu motivieren, dass das Leben weitergeht." Ihr Leben geht auch weiter. Sie lebt allein in ihrer Wohnung mit ihrem Kater, regelt ihren Alltag. Läuft alles glatt, startet sie im Herbst mit der Wiedereingliederung in ihren Beruf. Auf die Frage, ob sie trotz allem wieder so handeln würde, sagt sie: "Ich denke ja. Ich bin einfach ein hilfsbereiter Mensch."

Autorin

Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 9. Juni 2022, 19:30 Uhr